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Das Schweizer Original

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Das Schweizer Original

Die unsichtbaren Lehrerinnen

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Kolumne von Christian Rieder zum Muttertag

In der stürmischen Eile unserer Welt, in der intellektuelle Leistung oft auf die schmale Leiste von Schulnoten reduziert und Erfolg an den trockenen Linien von Testergebnissen gemessen werden, schweben wesentliche Figuren wie Schatten im Hintergrund, kaum wahrgenommen und doch grundlegend: Elternteile, insbesondere Mütter. Diese unsichtbaren Lehrerinnen und Lehrer weben still die ersten Fäden des Wissens und der Fähigkeiten in das Leben ihrer Kinder – sie prägen nicht nur die Lesekompetenz und Schreibfähigkeiten, sondern auch deren ganze Persönlichkeit. Zum Muttertag sei gebührend wertschätzend ein Schlaglicht auf diese essenzielle Rolle geworfen – ohne den Beitrag der Väter und anderen Erziehungsberechtigten dabei zu schmälern.

Lange bevor Kinder die ersten Buchstaben entschlüsseln oder ihren Namen schreiben können, sind es oft die Eltern, die als atmende Hörbücher den Grundstein für zukünftiges Lesen und Schreiben legen. Das Vorlesen am Abend ist weit mehr als eine Schlafenszeit-Routine; es ist die Tür in das Reich der Sprache, ein erstes Melodieren im Rhythmus der Wörter, ein Wandern durch die unendlichen Gärten der Fantasie. Hier schulen Kinder nicht nur ihre Ohren für Phoneme, sondern entdecken auch die bunte Vielfalt der Sprache, ihre Strukturen und ihre erzählerische Kraft.

Die alltägliche Kommunikation zwischen Eltern und Kind bildet eine unsichtbare Schule, in der sprachliche Fähigkeiten sanft und stetig wachsen. Eltern erweitern spielerisch den Sprachgebrauch – sie spicken Gespräche mit lebhaften Beschreibungen, weben Fragen ein und bauen Brücken aus den Antworten ihrer Kinder. Diese Dialoge sind essenziell, denn sie schulen die Kinder darin, Gedanken zu formen, Informationen zu ordnen und neugierig zu hinterfragen. Diese Fertigkeiten sind entscheidend für das spätere Schreiben und für das Verstehen anspruchsvoller Texte.

Die emotionale Bindung, die im gemeinsamen Lesen und im Erzählen von Geschichten wächst, fördert nicht nur die sprachliche Entwicklung, sondern auch die Lesemotivation. Kinder, die erleben, wie ihre Eltern das Lesen und Schreiben schätzen, fangen Feuer – eine intrinsische Motivation, die oft der Schlüssel zum Tor einer lebenslangen Bildungsreise ist.

Eltern, die ihren Kindern die Tür zur Welt der Buchstaben öffnen, schenken mehr als nur die Grundlagen der Kulturtechniken. Sie legen den Grundstein für kritisches Denken, Empathie und die Fähigkeit, sich auszudrücken. Diese Geschenke sind von unermesslichem Wert und ihre Wirkung reicht weit über das Klassenzimmer, ja weit über die Schulzeit hinaus.

Zum Muttertag ist es daher mehr als angebracht, nicht nur Danke zu sagen, sondern auch die fundamentale Rolle der Eltern in der intellektuellen Entwicklung ihrer Kinder anzuerkennen. Sie sind Lehrerinnen und Lehrer im elementarsten, bedeutendsten Sinn des Wortes – auch wenn ihre Beiträge oft im Verborgenen blühen. Wir sollten jeden Tag dankbar sein für das wertvolle Geschenk, das sie der nächsten Generation machen, heute und an jedem Tag.

Christian Rieder

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