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So lernen die Profis: Die Lerntypen-Mär

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Obwohl wissenschaftlich nicht haltbar, glauben viele hartnäckig an die Existenz von Lerntypen. Sie beschweren sich, Lerninhalte auf dem falschen Wahrnehmungskanal vermittelt zu bekommen, sie müssen zum Beispiel lesen, anstatt nur zuhören zu dürfen. Doch Wahrnehmen ist noch lange kein Lernen.

| von Christian Rieder |

«Ich kann das nicht lernen, ich bin halt ein haptisch-kinästhetischer Typ.» Solches hört man gerne. Gemeint ist, dass sich die Schülerin und der Schüler darauf beruft, bevorzugt durch Anfassen und Fühlen zu lernen und nicht etwa durch Lesen und Denken, womit man ja der Gruppe der kognitiv-intellektuell Lernenden zuzuordnen wäre. Eine andere Schülerin behauptet, sie sei ein auditiver Typ, sie bevorzuge Lernen durch Hören und Sprechen. Wieder ein anderer Schüler hält fest, dass er der optisch-visuelle Typ sei, er lerne ausschliesslich durch Sehen beziehungsweise Beobachten, weshalb er Physik-Experimente toll fände, er aber unmöglich eine halbe Stunde seiner Lehrerin zuhören könne.

Die Klassifizierung – um nicht zu sagen, Schubladisierung – der Lernenden mit einem solchen Typenschema wurde vom deutschen Professor und populärwissenschaftlichen Autor Frederic Vester in die Welt gesetzt, von Pädagogen im deutschen Sprachraum in grossem Umfang rezipiert – und leider von vielen Schülerinnen und Schülern nur zu gerne übernommen. Vester ist der Auffassung, die Lerneffektivität könne gesteigert werden, indem der jeweils richtige Wahrnehmungskanal (visueller, auditiver, haptischer, kognitiver) des jeweiligen Lerntyps gezielt angesprochen werde. Die Unterscheidung von Personen hinsichtlich besonders effizientem Lernverhalten nach der Idee bevorzugter Wahrnehmungskanäle ist allerdings mehr als heikel und wird deshalb von der Lernpsychologie auch abgelehnt.

Zu Recht, denn die Einteilung in solche Persönlichkeitsbilder kann ungewollte Folgen haben. Sie führt zu einseitigem Lernen. Oder anders ausgedrückt: Lernen wäre gar nicht möglich, würde nur der angeblich individuell «richtige», also nur einer der unterschiedlichen Wahrnehmungskanäle berücksichtigt, zum Beispiel nur das Sehen oder nur das Hören.

Empfehlenswert ist die Beschäftigung mit den Lernstilen. Sie sind personenunabhängig, typologisieren nicht.

Wer also gut in der Schule sein will, der sollte der Lerntypen-Mär nicht auf den Leim gehen. Empfehlenswert hingegen ist die Beschäftigung mit den Lernstilen. Lernstile sind personenunabhängig. Sie beschreiben zwar individuelle Präferenzen in verschiedenen Phasen eines Lernprozesses, typologisieren aber nicht. Lernstile sind Präferenzen in bestimmten Situationen, es handelt sich um die unterschiedlichen Zugänge zu Wissen, die Menschen situativ bevorzugen können.

Lernen ist ein Prozess, besonders gut zu beobachten beim Erfahrungslernen. Folgen wir der Theorie des US-amerikanischen Pädagogen David A. Kolb, so durchläuft der Mensch in einem Lernprozess vier Schritte in einem Lernkreislauf. In Phase 1 des Lernprozesses gilt es, konkrete Erfahrungen zu gewinnen. Phase 2 ist das reflektierende Beobachten. In Phase 3 bilden wir abstrakte Konzepte auf der Grundlage der Reflexion. Sie führt zu einem Erklärungsansatz, lässt das Aufstellen einer Regel oder einer Theorie zu. Phase 4 beschreibt das aktive Experimentieren, das Erproben und Anwenden. Das Experimentieren kann zu neuen Erfahrungen führen, womit sich der Lernkreislauf schliesst und wieder neu beginnt.

Nun ist es so, dass wir Menschen zu einzelnen Lernstilen neigen, zu Lernstilen, die wir bevorzugen. Sie können eher abstrakt/analytisch oder eher konkret/praktisch sein. Ob wir Vertreterinnen und Vertreter des einen oder andern Lernstils sind, ist abhängig von persönlichen Eigenarten und Präferenzen. Kolb unterscheidet vier Vertreterinnen respektive Vertreter.

Divergiererinnen und Divergierer, die Entdeckerinnen und Entdecker: Sie bevorzugen konkrete Erfahrung und reflektiertes Beobachten. Ihre Stärken liegen in der Vorstellungsfähigkeit. Sie neigen dazu, konkrete Situationen aus vielen Perspektiven zu betrachten und sind an Menschen interessiert. Sie haben breite kulturelle Interessen und spezialisieren sich oft in künstlerischen Aktivitäten.

Assimiliererinnen und Assimilierer, die Denkerinnen und Denker: Sie bevorzugen reflektiertes Beobachten und abstrakte Begriffsbildung. Ihre Stärken liegen in der Erzeugung von theoretischen Modellen. Sie neigen zu induktiven Schlussfolgerungen und befassen sich lieber mit Dingen oder Theorien als mit Personen. Sie integrieren einzelne Fakten zu Begriffen und Konzepten.

Konvergiererinnen und Konvergierer, die Entscheiderinnen und Entscheider: Sie bevorzugen abstrakte Begriffsbildung und aktives Experimentieren. Ihre Stärken liegen in der Ausführung von Ideen. Sie neigen zu hypothetisch-deduktiven Schlussfolgerungen und befassen sich lieber mit Dingen oder Theorien (die sie gern überprüfen) als mit Personen.

Akkommodiererinnen und Akkommodierer, die Praktikerinnen und Praktiker: Sie bevorzugen aktives Experimentieren und konkrete Erfahrung. Ihre Stärken liegen in der Ausgestaltung von Aktivitäten. Sie neigen zu intuitiven Problemlösungen durch Versuch und Irrtum und befassen sich lieber mit Personen als mit Dingen oder Theorien. Sie verlassen sich mehr auf einzelne Fakten als auf Theorien.

Die Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Lernstile lassen sich jeweils zwei Phasen im Lernprozess zuordnen, in denen ihre Stärken voll zum Tragen kommen.

Divergiererinnen und Divergierer werden den Phasen 1 und 2 zugeordnet, dem Sammeln von Erfahrungen sowie dem Beobachten und der Reflektion. Assimiliererinnen und Assimilierer sind besonders stark in den Phasen 2 und 3, beim Beobachten und der Reflektion sowie in der Bildung abstrakter Konzepte und Theorien. Konvergiererinnen und Konvergierer fühlen sich in den Phasen 3 und 4 besonders wohl. Sie sind effektiv im Bilden abstrakter Konzepte und Theorien und können sehr gut experimentieren, erproben und anwenden. Die Akkommodiererinnen und Akkommodierer schliesslich werden den Phasen 4 und 1 zugeordnet, dem aktiven Experimentieren, der Anwendung und dem Sammeln von Erfahrungen, trial and error.

Menschen lassen sich nicht auf einzelne Lernstilcharaktere reduzieren, aber wir alle können durchaus individuelle Stärken haben.

Der Theorie nach lässt sich sagen, dass wir Lernenden zwar unterschiedlich stark ausgeprägt einzelne Lernstile vertreten, aber jede und jeder von uns dennoch den ganzen Lernprozess durchlaufen muss, um tatsächlich effektiv zu lernen. Menschen lassen sich nicht einfach einzelnen Lernstilen zuordnen, lassen sich nicht auf einzelne Lernstilcharaktere reduzieren, aber wir alle können durchaus individuelle Stärken haben.

Die vier Lernstilcharaktere kann man sich gut als Team im eigenen Kopf vorstellen. Jeder einzelne Charakter gestaltet den Lernprozess massgeblich mit. Der Unterschied zwischen uns Lernenden liegt in den unterschiedlich ausgeprägten Lernstilcharakteren. Dennoch sind alle vier wichtig, ja essenziell für den Lernprozess. Nur alle vier geben ein Ganzes. Sie sind das Team in unserem Kopf. Und wir brauchen das ganze Team.

Lerntypen gibt es nicht. Lernstile, die wir individuell bevorzugen, allerdings schon. Stärken stärken, Schwächen schwächen. Wer seine vier Lernstilcharaktere im Kopf behält, wird besser lernen, heute – und im ganzen Leben. Die Ausrede mit dem angeblichen Lerntyp gilt nicht.

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